Der Elefant |
Man muß die Liebe zu den Menschen verlieren oder verlegen oder gestohlen bekommen, wie soll man sie sonst wiederfinden? Schön blöd sähe man aus, wenn man sie unter der berühmten Laterne suchte: “Was suchen Sie denn?”, würden die Leute fragen und man würde die Liebe aus der Tasche ziehen und sagen: “Na, das hier!” Aber was soll das mit dem Wiedergefinde? Warum muß man die Liebe wiederfinden, warum kann man sie nicht gleich behalten? Schon mit der Antwort auf diese Frage ist es dasselbe. Man sucht sie, man findet sie, man vergißt sie wieder. Warum kann man nicht behalten, was man einmal gefunden hat? Die Antwort, die man wieder vergessen wird, gibt der Elefant im Wohnzimmer. Man sieht ihn deswegen nicht, weil er immer da ist. Man vergißt ihn, weil er immer da ist. Würde der Elefant auch nur einmal in der Woche abends an der Tür schellen und sagen: “Guten Abend, da bin ich wieder, hat der Tatort schon angefangen?”, dann würde man ihn auch noch im Raume sehen, wenn der Tatort lange vorbei ist. Aber man gewöhnt sich so sehr an seinen Anblick, daß man ihn gar nicht mehr wahrnimmt. Das funktioniert erstaunlicherweise bei Elefanten, die ja fast die Hälfte des Wohnzimmers einnehmen, und das funktioniert, allerdings ohne daß uns das erstaunen würde, bei der Liebe. Dabei ist die Liebe um einiges größer als der Elefant: sie ist, wie wir wissen und wieder vergessen werden, alles. Die Liebe ist alles, was es gibt, und genau deswegen übersehen wir sie vielleicht schneller und ausdauernder als alle Elefanten zusammen, die es seit der Erfindung des Urelefanten vor 10,73 Millionen Jahren in Wohnzimmern gab. Würde der Elefant durch die Wohnzimmertür passen, hätte er es nicht ins Sprichwort geschafft, denn natürlich würde er ab und zu in den Supermarkt gehen, um Bananen zu kaufen, oder fremde Wohnzimmer inspizieren auf der Suche nach Artgenossen. Und jemanden, von dem wir wissen, daß er wieder gehen wird, den übersehen wir nicht. Was kommt und geht und wiederkommt, das bleibt in unserem Bewußtsein. Und deshalb hat der liebe Gott – außer der Größe des Elefanten – die Angst erfunden. Die Angst ist die große Gegenspielerin der Liebe. Die Angst treibt die Liebe aus dem Haus. (Sie würde unter Schutt und Feinstaub auch den Elefanten aus dem Haus treiben, aber zum Glück kennt diese Unterart keine Angst.) Und kaum ist die Liebe fort, schon schmettern wir eine saftige Grenze mitten durch die Welt! Und veranstalten in einem einzigen Augenblick einen gigantischen Umzug, denn nun nehmen wir ein jedes, dessen Existenz unser Bewußtsein erreicht hat (existieren tut natürlich trilliardenmal mehr), nehmen es hinweg von seinem Ort und weisen ihm einen neuen zu: das Gute hierhin, das Schlechte dorthin. Das Gute, temporär, kann jederzeit schlecht werden: Möge es sich also benehmen! Das Schlechte aber nun ist hinter die Grenze verbannt und ausgestoßen und wir hoffen, daß es dort verhungern möge, verschwinden, zu Staub zerfallen. (Und dann erst: dann wäre die Schöpfung perfekt.) Wir wollen es nicht mehr haben und deshalb verlieren wir es. Natürlich nur, um es irgendwann wiederzufinden und dorthin zurückzulegen, wo es hingehört. Aber das kann lange dauern. Und in die Welt geschmetterte Grenzen sind nur selten aus Pappe. Je ärger wir gelitten haben, desto massiver wird unser Baumaterial. Manch errichtete Trennlinie scheint aus Stahl und wird bis zum letzten Moment dem lieben Gott in die Schuhe geschoben. Aber keine Sorge – nach dem Sterben kommt die Wiedererleuchtung und schwupp, sind alle Grenzen fort und rückt alles zurück an seinen wahren Platz. Da hat es mit der Verliererei und dem Wiedergefinde ein Ende. Bis uns das Spiel von neuem gefällt, denn auch Gott und die Seelen und das Jenseits unterliegen dem Gesetz des Elefanten im Wohnz— äh, im Paradies. Als Gott eines Tages merkte, daß er vor lauter glückseliger Einheit den Elefanten im Paradies nicht sah, erschuf er ihn ja erst, mitsamt uns und unseren Wohnzimmern. So gesehen gibt es zwar Urlaub vom Verlieren und Wiedergefinde. Aber aufhören wird das nie, das können wir dem Schöpfer wohl glauben. |
© Karin Schnurfeil 2016-10-11 |
Dem Schlüssel 05 gewidmet — der Elefant ist das Symboltier für den mittleren Frequenzbereich dieses Genetischen Schlüssels und verkörpert in diesem die Gabe der Geduld. |